Band 3
Entwürfe
Der provokative Obertitel unserer Buchreihe, „Liechtenstein erzählen“ stellt implizit eine Reihe von Fragen: Wie kann man ein Land erzählen? Wem darf man zutrauen und zumuten, eine solche Erzählung in die Welt zu setzen? Und welche Art von Narrativ wird das sein, eine erzählerische „Bilanz“ dieses Staates zwischen Österreich und der Schweiz?
Mit den Bänden „Demokratische Momente“ (2017) und „Aufbrüche“ (2019) haben wir den Blick in die Vergangenheit gerichtet und drei Ereignisketten oder Entwicklungsphasen in den Blick genommen, die Liechtenstein zwischen den 1960ern und 1990ern kulturell und politisch geprägt haben: die Popkultur der Beat-Ära, die Auseinandersetzungen um das Frauenstimmrecht und die Verfassungsdebatte. Wichtig war uns dabei, den Facettenreichtum der Narrative zu dokumentieren und zugleich eine alternative Geschichte des Fürstentums im kulturellen Gedächtnis zu archivieren, die im offiziellen Narrativ des Staates kaum Beachtung findet.
Entsprechend klar war das Profil der Zeitzeugen und Gewährsleute, deren Wirklichkeitserzählungen die ersten beiden Bände versammeln: Gefragt wurden Liechtensteinerinnen und Liechtensteiner, die an den genannten Entwicklungen aktiv beteiligt waren oder sie zumindest als aufmerksame Beobachterinnen und Beobachter mitverfolgt und miterlebt haben. Diese beiden Themenkomplexe standen deshalb am Anfang der Buchreihe, weil viele Zeitzeugen mittlerweile ein hohes Alter erreicht haben; mit ihnen drohen wir auch ihre Geschichten zu verlieren.
Lebendige Erzählgemeinschaften speisen sich aber nicht nur von und aus der Vergangenheit, sondern reflektieren den gesellschaftlichen und kulturellen Wandel auch mit Blick auf die Zukunft. Deshalb wollen wir im dritten Band nun programmatisch die jüngere Generation zu Wort kommen lassen, deren Erzählungen sich stärker auf die Zukunft richten: Was bewegt die jungen Leute, wie stellen sie sich den Staat der Zukunft vor, welche sozialen und politischen Themen haben für sie Vorrang? Diesen Fragen geht der Band nach.
Diese Perspektivenerweiterung hat methodische Konsequenzen, sowohl im Hinblick auf die Auswahl und Anzahl der Beiträge als auch mit Blick auf den redaktionellen Prozess. Das klassische Format des narrativen Interviews unter vier Augen muss aufgebrochen werden, um die Jugend am Diskurs zu beteiligen. Deshalb werden wir den kollektiven Aspekt des Erzählens bereits bei der Auswahl und Herstellung der Wirklichkeitserzählungen in den Vordergrund stellen. Konkret heißt das, dass wir zunächst neue Interviewer einbeziehen. Hatten diese Aufgabe bislang Roman Banzer und Hansjörg Quaderer übernommen, wird für Band 3 aus dem Umfeld der Universität Liechtenstein eine Reihe junger Kolleginnen und Kollegen gesucht, die bereit sind, sich für das Projekt engagieren. Ihnen wollen wir es überlassen, wiederum interessante Gesprächspartner vorzuschlagen, deren Beiträge aus ihrer Sicht maßgeblich sind für die Kollektiverzählungen der nächsten Generation.
Durch Mund-zu-Mund Propaganda werden wir ein breit gefächertes Feld junger Leute ansprechen, die sich für unser Erzählprojekt – und darüber hinaus für die Zukunft ihrer Erzählgemeinschaft – engagieren wollen. Um ein attraktives Umfeld für diesen Austausch anbieten zu können, haben wir ein innovatives Format entwickelt, das sog. Erzählfest. Wir werden alle Interessenten in den KLEINEN SAAL, Schaan einladen, um dort in lockerer, gemeinschaftlicher Atmosphäre narrative Visionen für ein Liechtenstein von morgen auszutauschen. Da davon auszugehen, dass die Erzählungen kürzer ausfallen als bei den Zeitzeugen der älteren Generation, werden wir die Zahl der Beiträge erhöhen.
Dieses Unternehmen ist natürlich mit einem erheblichen Aufwand verbunden. Unsere jungen Interviewer müssen in einem vorbereitenden Workshop mit unserer Methode des narrativen Interviews vertraut gemacht werden, die speziell für „Liechtenstein erzählen“ entwickelt wurde und in Band 1 dokumentiert ist. Aus der Praxis wissen wir, dass die Verschriftlichung mündlicher Interviews (Transkription) und ihre Überarbeitung zu gut lesbaren Texten (Lektorat) zum einen sehr zeitaufwendig ist und zum anderen ein hohes Maß an redaktioneller Kompetenz erfordert. Diese Erfahrungen und Fähigkeiten können wir bei den Nachwuchs-Interviewern weder voraussetzen noch durch einen Workshop hinreichend schulen. Deshalb werden Roman Banzer und Hansjörg Quaderer in Kooperation mit den Beteiligten das Lektorat der Beiträge übernehmen. Die ethischen Prinzipien unserer Arbeit (Mitzeichnung und Freigabe der fertigen Wirklichkeitserzählung durch die Gewährsleute) bleiben davon natürlich unberührt.
Mit Band 3 geht das Projekt somit in eine neue, spannende Phase über. Zu erwarten ist nicht nur ein Schneeballeffekt (Verbreitung des Projekts über bislang nicht genutzte Kanäle und Erweiterung der Zielgruppe), sondern auch eine neue Qualität der inhaltlichen Auseinandersetzung mit Liechtenstein: die programmatische Einbeziehung der nächsten Generation lässt spannende Einblicke in die Zukunftsvisionen derer erwarten, die sie eines Tages auch tragen und umsetzen müssen. Unser Band, der ihre Wirklichkeitserzählungen von heute dokumentiert und archiviert wird für sie morgen eine Art Bezugspunkt sein, an dem sie sich selbst retrospektiv messen können. Band 3 schlägt so eine narrative Brücke zwischen den Generationen, die in den beiden abschließenden Bänden dann thematisch ausgebaut und facettenreich ausgestaltet werden soll.
Literatur
Klein, Christian / Martínez, Matías: Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens. In: Dies. (Hg.): Wirklichkeitserzählungen: Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens. Stuttgart/Weimar 2009, 1-13.
Koschorke, Albrecht: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt a.M. 2012.
Müller-Funk, Wolfgang: Die Kultur und ihre Narrative: Eine Einführung. Wien / New York 2008.
Nünning, Ansgar: Wie Erzählungen Kulturen erzeugen: Prämissen, Konzepte und Perspektiven für eine kulturwissenschaftliche Narratologie. In: Alexandra Strohmaier (Hg.): Kultur – Wissen – Narration: Perspektiven transdisziplinärer Erzählforschung für die Kulturwissenschaften. Bielefeld 2013, 15-53.
Schumann, Elke / Gülich, Elisabeth / Lucius-Hoene, Gabriele / Pfänder, Stefan (Hg.): Wiedererzählen: Formen und Funktionen einer kulturellen Praxis. Bielefeld 2015.
Sommer, Roy. Kollektiverzählungen: Definition, Fallbeispiele und Erklärungsansätze. In: Christian Klein / Matías Martínez (Hg): Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens. Stuttgart: Metzler 2009, 229-244.
Sommer, Roy. „Gruppenbildung.“ In: Matías Martínez (Hg): Erzählen: Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart: Metzler 2016, 257-259.